Prolog:
Als wir mit am 29. August den weiten Weg nach Finnland antraten, waren meine Ziele hoch gesteckt. Schließlich wähnte ich uns in Topform und meine 90-jährige Mutter während unserer dreiwöchigen Abwesenheit trefflich versorgt. Alles im Lot!
Anreise:
Doch schon am nächsten Morgen klopfte der Trübsinn an. Christine hatte sich übergeben müssen, an unserem Quartier unweit dänischen Grenze so gut wie nichts frühstücken können. Unterwegs über die großen Brücken nach Schweden hielten wir vorsorglich Plastiktüten bereit. Obwohl ihr Unwohlsein wuchs, verbrachten wir im Land der Elche und Zimtschnecken zwei schöne Tage. Sonntagabends ging es ihr dann derart schlecht, dass ich mich in der Warteschlange des Fährhafens Kappelskär ernsthaft mit dem Gedanken trug umzukehren. Christines Veto und die Gewogenheit anderer WM-Teilnehmer halfen mir, meine Bedenken zurückzustellen. Vom Luxus der Finnsirius bekam meine Frau nichts mit. Während ich mir die Vergnügungsdecks dieser schicken Fähre betrachtete, suchte sie in unserer Kabine vergeblich nach Schlaf. Kein Wunder, wenn man längst nichts mehr im Magen hat und dennoch alle halbe Stunde dem Brechreiz erliegt. Als wir montagmorgens an unserem Appartementhotel in Vantaa eintrafen, waren wir hundemüde. Eine hilfsbereite junge Dame am Empfang sorgte dafür, dass wir früher als vereinbart einchecken konnten.
Angekommen:
Den Rest des Tages erkundete ich mit Youna die Gegend oder machte im um die Ecke gelegenen Einkaufcenter Besorgungen. Was ich für Christine ohne Rezept in einer Apotheke erhielt, war unnütz. Dienstagmorgens brachte ich sie zu einem Arzt. Es nicht zu tun, wäre nicht mehr zu verantworten gewesen. Die von Dr. Aziz nach einer fast dreistündigen Prozedur verschriebenen Medikamente begannen abends langsam zu wirken. Gott sei Dank!
Die Angebote zweier mitfühlender Teamkolleginnen, nachmittags im angrenzenden Wald gemeinsam Anzeigen zu üben, nahm ich dankbar an. Dass Youna dabei beim ersten Mal von der Versteckperson ohne zu bellen schnurstracks zu mir zurücklief, machte mich sprachlos. So ein Verhalten hatte sie noch nie an den Tag gelegt. Sollte sich das bei der Prüfung wiederholen, fielen wir sang- und klanglos durch. Die Umstände hatten anscheinend auch ihr aufs Gemüt geschlagen.
Auftakt:
Am Mittwochvormittag meldete ich uns bei der Wettkampfleitung offiziell als Teilnehmer in der Flächensuche an und absolvierte mit Youna den tierärztlichen Check. Am frühen Nachmittag nahm ich dann an einer Mannschaftsbesprechung teil, bevor ich mir im Stadion während einer Vorführung mit Probehunden anhörte, wie sich die Richter den Ablauf der Unterordnung und Gewandtheit im Detail vorstellten. Zu meiner und anderer Leute Freude erlebte Christine die Eröffnungszeremonie von der Tribüne aus mit. Es war das erste Mal, dass sie unser Appartement verlassen hatte. Bei der abendlichen Lotterie zog ich ein Los, auf das ich gerne verzichtet hätte. Als Langschläfer im Suchgelände früh morgens als Erster an den Start zu müssen, schmeckte mir gar nicht. Egal, Hauptsache Christine ging es wieder besser.
Wettkampf:
Da es für uns erst freitagmittags ernst wurde, ging ich am ersten Tag des Championats mit Youna wiederholt spazieren oder probte mit ihr in der mit Kunstrasen ausstaffierten Myyrmäki-Halle die Disziplinen Schaukel, Leiter und Lenkbarkeit auf Distanz. Zwischendurch betrachteten wir uns die ein oder andere Paarung im Stadion. Christine ging es deutlich besser, so dass sie uns den Nachmittag hindurch begleitete. Der Frohsinn war zurück! Unterwegs lernten wir Hundesportler(innen) aus allen möglichen Ländern kennen und schätzen. Die Wahl unserer Übernachtungsstätte am Rande dieses von Wäldern und Parks flankierten Terrains etlicher Sportanlagen erwies sich als ideal: ausreichend Parkplätze, viel Natur, kurze Wege. Wir gelangten in wenigen Minuten zu Fuß überall hin, wohin wir wollten. Das Auto konnte stehen bleiben.
Unterordnung/Gewandtheit
Als ich mit Youna (die formell Oly heißt) über den blauen Tartan schritt, wusste ich, dass ich einen Fehler begangen hatte. Sie zog an der Leine und blickte sich zappelig in alle Richtungen um. Zweifellos suchte sie ihr auf der Tribüne sitzendes Frauchen, von dem wir uns kurz zuvor getrennt hatten. Während ich bereute, mit Christine zum Stadion gelaufen zu sein, stand mein Prüfungspartner mit seinem Malinois-Rüden längst bereit.
„Alarico mit Rocket und Gerhard mit Oli“. Mit eben diesen Worten kündigte uns Detlef Kühn über Lautsprecher dem Publikum an. Dabei sprach er das Ypsilon von Oly kurz statt langgezogen aus. So, als stünde die Kurzform von Oliver auf seinem Richterzettel. Diese Facette sollte noch Bedeutung erlangen.
Youna musste zunächst in die „Ablage“. Eine Übung, von der ich annahm, dass sie uns mindestens neun von zehn Punkten einbringen würde. Denkste! In derselben Millisekunde, in der Alarico mit Rocket loslief, kam sie wie aus der Pistole geschossen auf mich zugerannt. Ich war fassungslos, wie vor den Kopf geschlagen. Mein Ansinnen aufs Treppchen zu steigen hatte sich in Luft aufgelöst, bevor es überhaupt richtig losging. Während der für Slowenien startende Italiener in der folgenden Viertelstunde die Grundlage für seinen späteren Sieg in der Trümmersuche schuf, lag Youna auf dem Rasen und schaute traurig zu mir hoch. Sie wusste, dass sie einen Fehler begangen hatte, aber bestimmt nicht welchen. Im Nachhinein wurde mir klar, woran es vermutlich gelegen hat: Üblicherweise steht der Hundeführer während der Ablage am Rande des Platzes, nicht wie hier inmitten desselben. Das hatten wir so nie geübt. Zudem hatte ich mich auf eine Weise von ihr entfernt und wieder zugewandt, dass sie annehmen konnte, wir wären bei der Übung „Distanzkontrolle“.
Als nächstes galt es, die „Freifolge mit Personengruppe“ zu stemmen. Was Youna dabei auf der ersten Gerade anstellte, übertraf alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Während des Fußgehens bellte sie mich unentwegt an, war völlig von der Rolle. Ein bloßer Zuhörer hätte wohl behauptet, sie verweise eine Versteckperson. Nach der Kehrtwendung war mir klar, dass es jetzt nur noch ums Bestehen geht, vorne mitzumischen illusorisch ist. Resignation machte sich breit. Die beiden Winkel absolvierte sie dann ordentlich, den Gang durch die Personengruppe mit Hunden gewohnt sicher, ohne zu bellen. Dennoch, nach der zweiten Übung hätte man mit überschaubarem Einsatz reich werden können, hätten Buchmacher Wetten auf unser Bestehen am Laufen gehabt.
Wende:
Doch mit einem Mal warf irgendwer mein Kopfkino an: In weißen T-Shirts steckende Menschen sangen ergriffen ein Lied von Bruce Springsteen: … no retreat, oly, no surrender! … Unmittelbar nach dem Boss rückte Oliver Kahn an: … Weiter, immer weiter! … schrie der Titan mir zu, während es Bananen regnete. Um das Maß vollzumachen, flog mir zeitgleich ein Golfball ans Haupt. Sein Einschlag weckte mich aus meinem Tagtraum und zugleich meinen Stolz. Das können wir unseren Blutsbrüdern und jenen, die uns hier und zuhause die Daumen drücken, unmöglich antun, Youna! Nein, wir werden nicht kapitulieren, sondern in der Manier der Saarderos bei ihrem heldenhaften Kampf an den Plitvicer Seen die Scheelsucht vom Platz fegen! Basta! So in etwa waren, die Semantik betreffend, auf dem Weg zur nächsten Übung eingedenk gewisser Geschehnisse meine Gedanken. Fortan boten wir der Unbill die Stirn und rissen das Ruder herum. Zweiundsiebzig Punkte brachte uns dieser denkwürdige Auftritt ein. Drei weniger und wir wären tatsächlich durchgefallen. Einerseits war ich erleichtert, andererseits mit mir am Hadern. Gegen Abend stieg meine Laune. Schließlich stand Younas Paradedisziplin noch bevor. Also schrieb ich mir auf die Fahnen, unsere Bestleistung im Gelände zu toppen, womit ein Platz unter den ersten zehn so gut wie sicher gewesen wäre.
Flächensuche:
Als wir uns am Samstagmorgen um zwei Minuten vor sechs nach einer halbstündigen Autofahrt am Treffpunkt einfanden, wurden wir von einer netten Finnin nach einem informellen Gespräch über eine Schotterpiste zu einer etwa fünfhundert Meter entfernten Wartezone gelotst. Zeit, sich die Füße zu vertreten und Youna ihre Geschäfte verrichten zu lassen. Um viertel vor sieben ging es dann zu Fuß an einen Sammelpunkt im Wald. Dort verabschiedete ich mich einstweilen von meiner Frau. Dass Christine im Tross der Begleiter zum Filmen mitläuft, schien uns zu riskant. Weniger einer möglichen Ablenkung Younas wegen, als vielmehr einem denkbaren Schwächeln ihrer selbst. Ich aß einen der bereitgestellten Äpfel und fragte eine Helferin, ob ich den Butzen wegwerfen soll. „Sure“, meinte sie lachend, „the bears are pleased.“ Das würde gerade noch fehlen, dass uns ein Bär über den Weg läuft, dachte ich und warf den Butzen ins Gras. Schließlich hatte ich - anders als bei unserer Mission am Silbersee – diesmal keine Knallkörper einstecken. Kurz darauf wurde ich zum Start geschickt. Nach meiner Meldung und der obligatorischen Chipkontrolle bekam ich von dem tschechisch/japanischen Richtergespann ein laminiertes Blatt Papier ausgehändigt, auf dem die Lage (nach dem Absturz eines Kleinflugzeugs wurden drei Passagiere vermisst ...) kurz und bündig beschrieben war. Ich las und gab das Schriftstück Daniel Sedlak, dem Hauptrichter, zurück. Signal für Kaori Oshima auf die Stoppuhr zu drücken. Von nun an hatten wir dreißig Minuten Zeit, die Kuh vom Eis zu holen. Nach Bekanntgabe meiner Taktik teilte ich Herrn Sedlak mit, dass ich Youna zunächst die Grundlinie entlang schicken werde. „Right or left?“, meinte er? Ich zückte – auch um ein wenig Eindruck zu schinden - mein Döschen Trockenshampoo und prüfte die Luft. „First to the left“, lautete meine Antwort. Sekunden später ging mit Younas üblichem Kampfschrei die Post ab.
Ich will es kurz machen: Die Manier, in der sie dieses malerische, mit Felsen gespickte, topografisch anspruchsvolle Gelände in wechselnden Seitenschlägen selbstständig absuchte, war ein Augenschmaus. Ich trug nichts dazu bei, außer ihr bei den Seitenwechseln durch Körperdrehungen und begleitende Handzeichen die Richtung zu weisen. Auf Grund meiner Erfahrungen bei der Bundessiegerprüfung legte ich auf dem zweiten Teil der Strecke beim Lenken und Leiten eine Schippe drauf.
Die erste Person hatte Youna ruckzuck gefunden, beim Bellen allerdings kurze Pausen eingelegt. Definitiv um zu lauschen, ob ich mich nähere. Mir war klar, dass uns dies Punkte kosten würde. Ihr Triebwechsel wiederum war vorbildlich. Da ich mich auf dem durch Flatterbänder gekennzeichneten vierhundert Meter langen Trampelpfad nicht zurück bewegen durfte, ließ ich es im Vertrauen auf Younas Ausdauer und Finderwillen beim Voranschreiten betont langsam angehen. Dass alle fünfzig Meter an Bäumen Hinweise über die zurückgelegte Distanz hingen, machte mir die zeitliche Orientierung leicht. Als Youna die auf der hinteren Grenze des Suchgebiets liegende dritte Versteckperson nach dreiundzwanzig Minuten gefunden hatte, befand ich mich etwa achtzig Meter von ihr entfernt. Gut gemacht, Mädchen!
Ihr Gebaren war bei allen drei Anzeigen dasselbe: genügend Abstand, saubere Triebwechsel, aber leider kurze Pausen beim Bellen. Letztere (insbesondere das „Schnell mal um die Ecke schauen, wo der Herr bleibt“ bei Anzeige zwei) fielen zu sehr ins Gewicht, um wie beabsichtigt aufzutrumpfen. Daniel Sedlak bewertete unsere Arbeit mit 172 Punkten. Damit hatten wir die Prüfung mit der Gesamtnote Gut bestanden. Alles im Lot!
Budenzauber:
Auf der abendlichen Festveranstaltung ging es dann hoch her. Das vom Veranstalter geblockte Restaurant war brechend voll, die Stimmung famos. Dessen ungeachtet wurde der finnische Musikus zeitig in den Feierabend geschickt. Seiner Mucke fehlte der Pfeffer. Das Publikum forderte Angelo, eine Strohhut tragende, mit Halsketten behangene Stimmungskanone aus Italien, die sich nicht zweimal bitten ließ ...
Schlussakkord
Sonntagmorgens fielen die letzten Entscheidungen. Dabei wurde meine Teamkollegin (und persönliche Favoritin) Patricia Lemke mit ihrem Idefix, einem prächtigen Beauceron, auf den letzten Drücker von Platz eins verdrängt. Trotzdem freute sie sich wie Bolle, und wir uns mit ihr! Überhaupt: Es war erfrischend zu erleben, wie fair und gönnerhaft miteinander umgegangen wurde. Wie sagte ein Kollege vom SV zu mir: „Da kann sich so manche(r) aus unserem Ortsverein eine Scheibe von abschneiden!“ Wir selbst landeten auf Platz achtzehn. Bei achtundvierzig Startern ein schöner Erfolg.
Um fünfzehn Uhr marschierten dann alle Teilnehmer noch einmal mit ihren Hunden ins Stadion ein. Es galt die Sieger zu ehren. Dabei durfte Christine die deutsche Fahne tragen, was mich stolz und zugleich wehmütig werden ließ: Bald schon wird dies hier Geschichte sein. Ob wir solch eine Verbundenheit noch einmal erleben?
Tags darauf traten wir unseren Urlaub am Finnischen Schärenmeer an. Er war wie das Wetter während dieser drei Wochen: herrlich! Ein Golfball flog mir dort übrigens nicht an den Kopf, obwohl wir inmitten eines Golfgeländes wohnten.
Resümee:
Die erste Hälfte dieser wunderbaren Reise bescherte uns eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die zweite jede Menge Muße. Dafür, und dass wir gesund wieder nach Hause kamen, bin ich unserem Schöpfer dankbar. Sollten wir nochmals an einem vergleichbaren Wettbewerb teilnehmen dürfen, werde ich mich vor den Starts wie beabsichtigt bekreuzigen. In Finnland hatte ich es vor lauter Zerstreutheit vergessen.
Sehr schön geschrieben! So mancher Schriftsteller könnte beim lesen neidisch werden. Weiter so !!!